Mikrotonale Differenzen in den Bach-Stimmungen

Dr. Jürgen Grönewald

 

Inhalt

  1. Hintergrund
  2. Ergebnisse
  3. Zusammenfassung
  4. Nachtrag
  5. Anhang
  6. Ihre Meinung ist mir wichtig

Hintergrund

Mit dem "Wohltemperierten Clavier" hat J.S.BACH nicht nur eine geniale Komposition geschaffen,
er hat damit gleichfalls eine gewisse Stimmung für Tasteninstrumente, eine "Temperierung" mit einer Bezeichnung benannt und charakterisiert. Er hat jedoch nicht anzugeben, wie sich diese von anderern Temperierungen unterscheidet.

Die Analyse der Notation von zweimal 24 Präludien und Fugen in allen Dur- und Molltonarten allein wird
keine befriedigenden Erkenntnisse bringen können. Mehr Aussicht auf Erfolg bei der Beantwortung der
Frage, was das Besondere an der "Wohltemperierung" sei, ist durch die Untersuchung der Tonskalen zu erwarten, die von Experten Bach zugeschrieben werden.

Der Begriff der "Wohltemperierung" wird in der musiktheoretischen Literatur mit der "Gleichstufigkeit"
gleichgesetzt, ist doch in beiden Systemen das "Spiel durch den Quintenzirkel" problemlos möglich.

Neue Erkenntnisse zur "Wohltemperierung" werden im Vergleich zu anderen Tonleiterskalen präsentiert.

Daraus ergeben sich sehr wohl Unterschiede zwischen "gleichstufigen" und "wohltemperierten" Tonsystemen. (Angemerkt sei  in diesem Zusammenhang, daß von diesen Systemen aufgrund charakteristischer Merkmale noch zwei weitere, "reine" und "mitteltönige" Tonsysteme sich abgrenzen lassen.)

Im Jahr 2000 wird der 250. Wiederkehr des Todestages des Thomaskantors Johann Sebastian Bach gedacht. Die vorliegende Abhandlung soll ein Beitrag zu diesem Anlass sein; sie ist Teil einer Untersuchung, die unter dem Arbeitstitel > Kennlinien und Profile musikalischer Temperaturen < in Vorbereitung ist und in der mehr als einhundert verschiedene Temperaturen bearbeitet sind.

Auf die bildlichen Darstellungen der Untersuchungsergebnisse wird besonderer Wert gelegt, ist es doch leichter mittels einer Zeichnung oder durch ein Diagramm Ergebnisse zu vermitteln als über eine Seite Text. Gerade bei der Mikrotonie kommt es auf die feinen Unterschiede an.                                                                    Ihre wahren Verhältnisse können durch graphische Darstellungen sinnfällig gemacht werden.

Für diese Studie wurden ausgewertet:

Jeder dieser Autoren hat diverse Möglichkeiten für Stimmungen von Tasteninstrumenten mit genauen Angaben der Tonhöhen für die zwölf Tonstufen nebeneinander gestellt. In der Musiktheorie nennt man die so beschriebenen Tonleitern "musikalische Temperaturen".

Einige davon sind ausdrücklich mit dem Namen des Thomaskantors Johann Sebastian Bach in Verbindung gebracht.

Vier dieser "musikalischen Temperaturen" werden übereinstimmend von den genannten Autoren beschrieben. Die von BILLETER und SCHUGK angegebenen Skalen sind identisch mit denen von TESSMER, dagegen gibt es geringfügige Differenzen zu einer Skala, die sich aus der Stimmanweisung bei KELLNER errechnet lässt. Beide stimmen jedoch im Prinzip überein, im Anhang sind sie zum Vergleich zugefügt.

Deshalb genügt es, die im Anhang gezeigten Tabellen von TESSMER als Arbeitsgrundlage zu nehmen. Dort sind  für jede der Temperaturen auch noch die genauen Quintengrössen vermerkt:

  1. Herbert KELLETATs sogenannte Bachstimmung (1966)
  2. Herbert Anton KELLNERs sogenannte Bachstimmung (1977)
  3. Berhard BILLETERs sogenannte Bachstimmung (1979)
  4. John BARNES' sogenannte Bachstimmung (1979)

Alle vier "Bachstimmungen" hat TESSMER als "sogenannte" bezeichnet, da keine authentische, von Bach selbst in irgendeiner Weise niedergelegte Stimmanweisung zu finden ist.

In einem Punkt allerdings sind sich die genannten Autoren einig:

Die in der Literatur oft als "gleichmässige" oder auch  "wohltemperierte" bezeichnete Stimmung entspricht nicht der Bach-Stimmung, wenn und solange damit die "gleichstufige Temperatur" gemeint ist, auch wenn in dieser alle Dur- und moll-Tonarten problemlos "durch den Quintenzirkel gespielt" werden können.

                                                       Alle Bach-Temperaturen sind ungleichstufig!

Sie haben ein gemeinsames, für sie charakteristisches Merkmal:  In der chromatischen Hälfte des Quintenzirkels sind die Quinten rein mit dem Tonintervall-Quotienten 3/2, in der diatonischen Hälfte sind die Quinten verkleinert, die Summe aller Differenzen zu den 3/2-reinen Quinten hat genau die Größe des pythagoreischen Kommas. Dieses ist mit  dem Intervallquotienten 531441/524288 etwa so gross wie ein Viertel eines Halbtones der zwölfstufigen Skala und hörbar!

Was die für die Bach-Temperaturen charakteristische Komma-Verteilung für die musikalische Praxis zu bedeuten hat, soll im Folgenden ausgeführt werden. Zunächst soll erläutert werden, in welcher Weise das gegebene Zahlenmaterial bearbeitet und warum die aufwendige Präsentation gewählt wurde.


Mit der Nennung der Abweichungen der Quinten von den reinen 3/2-Intervallen in Bruchteilen des pythagoreischen Kommas sind die Temperaturen im Wesentlichen beschrieben. Um die charakteristischen Details anschaulich machen zu können ist es trotzdem notwendig, die musikalischen Temperaturen zur Herausarbeitung ihrer Unterschiede aufwendiger und unter verschiedenen Aspekten aufzubereiten, mindestens mit Skalen im linearen wie auch im logarithmischen  Maßstab.                                                                                  Die in der Literatur üblichen Tabellen  zur Beschreibung der Temperaturen sind auch hier genannt, die graphischen Darstellungen von "Kennlinien" und "Profilen" sind in dieser Studie die neue, die eigenständige Ergänzung.

In Tabellen auf linearer Basis (Tonfrequenzen) sind gleichgrosse Tonintervalle (Beispiel Halbton oder Komma) am oberen Ende der Skala zahlenmässig ungefähr doppelt so gross wie am unteren Ende und daher schwer vergleichbar.

Durch eine Umrechnung in den logarithmischen Massstab (Centwert-Tabellen) werden gleich grosse Tonintervalle auch zahlenmässig überall gleich gross.

Das "musikalische Rechnen", das sind die Wege der Be- und Umrechnungen, werden in der erwähnten grösseren Untersuchung genau beschrieben, in diesem Auszug daraus wird darauf verzichtet. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass bei jeder musikalischen Temperatur das schon erwähnte pythagoreische Komma - das ist der Überschuss von zwölf übereinander gestellten reinen 3/2-Quinten über sieben 2/1-Oktaven - ausgeglichen werden muss. Mit 23.460 cent ist es im logarithmischen Massstab nur wenig kleiner als der vierte Teil eines gleichstufigen Halbtones , der 100 cent gross ist. (In der Cent-Tabelle ist deshalb eine ganze Oktave  1200 Cent gross).

Die angegebenen Temperaturen differieren gegeneinander. Obwohl die Unterschiede nicht gross sind, liegen den verschiedenen Skalen dennoch unterschiedliche Verteilungssysteme zugrunde. Um diese herauszufinden und sie einem bestimmten System zuordnen zu können, ist eine eingehendere Untersuchung bis ins Detail notwendig.

Die eindeutig gegebene Lage und Grösse der verminderten Quinten im Quintenzirkel gestattet die genaue Berechnung der Tonintervalle und -frequenzen.

Wie genau? Dazu hat sich in der Praxis der Berechnungen und der Erstellung von Systemen eine Genauigkeit bei den Centzahlen von drei Dezimalstellen hinter dem Komma als ausreichend erwiesen. (Bei dieser dritten Stelle hinter dem Komma handelt es sich um die Grösse eines Eintausendstels eines Cents!)

Die Addition aller zwölf Quint-Intervalle muss genau zum Zirkelschluss, in der Summe genau 8400.000 cent führen. Für die Erstellung in sich geschlossener Zahlensysteme müssen deshalb gelegentlich die Cent-Zahlen in der dritten Stelle hinter dem Komma "gerundet" werden.

Zwölf Quinten, von denen jede "reine" mit dem 3/2-Tonintervallquotienten 701.955 cent gross ist, addieren sich aber auf 8423.460 cent, sieben Oktaven mit dem 2/1-Quotienten und der Grösse von 1200 cent addieren sichnur auf 8400 cent.
 

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Jede der für eine Temperatur im Folgenden gegebenen Tabellen und Graphiken ist die Darstellung von ein und demselben Sachverhalt, alle zusammen dienen der schnellen Übersicht und zum Vergleich der musikalischen Temperaturen untereinander, sie sind deshalb auch stets in demselben Maßstab gefertigt:

Grösse der Quinten im Quintenzirkel ist eine beliebig genaue Umrechnung in eine Skala möglich, in der gleichgrosse Tonintervalle auch zahlenmässig gleichgross sind. Zu berechnen sind die Centzahlen aus dem Logarithmus der Dezimalzahlen, multipliziert mit der Zahl 1200 und dividiert durch den Logarithmus der Zahl 2 (0.30103).

Zusätzlich zu den üblichen Beschreibungen musikalischer Temperaturen: Die Darstellung von "Kennlinien" und "Profil" für jede Temperatur zum schnellen Vergleich, zur Charakterisierung und zur Zuordnung zu einer der Gruppen, die sich aus der Summe aller - nicht nur dieser vier hier gezeigten - bilden lassen.

Kennlinie musikalischer Temperaturen:
 


Profil musikalischer                                                                                                                        Temperaturen:Mit dieser Graphik wird das Verhalten einer Temperatur bei Tonarten-Modulationen dargestellt. Es werden die Auswirkungen auf das Intervallgefüge gezeigt beim "Gang quer durch den Quintenzirkel".
 

Das Diagramm des Profils, das in Parallelperspektive auch plastisch dargestellt ist, hat diesen Aufbau:

In der senkrechten Spalte sind die zwölf Tonstufen jeder Tonleiter in ihrer Quintenfolge (nicht chromatisch!) notiert. Zwischen den Grundtonleitern - am rechten wie am linken Rand - liegen die elf Tonleitern, die jeweils auf den Tonstufen der Grundtonleiter aufgebaut sind, in der Folge des Quintenzirkels.

Ergebnisse

Alle "sogenannten Bach-Stimmungen" gehen übereinstimmend davon aus:

Der Ausgleich des pythagoreischen Kommas geschieht im diatonischen Teil des Quintenzirkels, während im chromatischen Teil alle Quinten mit dem Schwingungsverhältnis 3:2 "rein" bleiben.

Werden die musikalischen Temperaturen durch die neuen Darstellungsweise mit "Kennlinien" und "Profilen" präsentiert, fallen als wesentliche Merkmale der nach dieser Vorgabe gebildeten Temperaturen auf:

Für die musikalische Praxis bedeutet dies, dass die "sogenannten Bachstimmungen" beim Tonarten-Modulieren "quer durch den Quintenzirkel" übereinstimmend diese bemerkenswerte Besonderheit haben:

Die Verstimmungen nehmen von der Grundtonart aus von Tonart zu Tonart mit wachsender Zahl der Vorzeichen zu, wie auch innerhalb der einzelnen Tonarten von den einfachen Tonintervallverhältnissen hin zu den komplizierten, sodass bei der Tonart fis/ges und in dieser beim Tritonus das Maximum der Verstimmung liegt.

Es kann an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass sich in der Literatur - nach entsprechender Aufarbeitung - noch viele andere Temperaturen finden lassen, die dieselbe Charakteristik haben.

Dabei sind einige deutlich weniger kompliziert gestuft. Beispiele dafür sind die Temperaturen "Valotti" und "Kirnberger III".

Mit dieser Besonderheit grenzen sich die "sogenannten Bach-Stimmungen" ab gegen drei andere Systeme der musikalischen Temperaturen: die "reinen", die "gleichstufigen" und die "mitteltönigen".

Charakteristica dieser Syteme sind:

  1. Bei den "reinen" Temperaturen stehen die Tonschwingungen von Grund- und Intervallton in einfachen Zahlenverhältnissen. Dadurch ergeben sich viele "reine" 3/2-Quinten, aber auch mehrere Ausgleichsquinten.
    Die Kennlinien sind deshalb gekennzeichnet durch Strecken aufsteigender 3/2-Linien und steile Verbinderlinien an den Ausgleichsstellen, beim Profil liegen grosse Differenzen dicht nebeneinander: In allen Tonarten gibt es Tonstufen, die von der eingestimmten Temperatur stark differieren.
  2. Bei den "gleichstufigen" sind alle zwölf Quinten in der Grössenordnung des Schisma (Differenz zwischen pythagoreischem und syntonischem Komma) oder 1/12 des pK, also ca. 2 cent verkleinert.
    In der Kennlinie resultiert deswegen eine nahezu horizontale, im Extremfall sogar völlig horizontale Linie.
    Wegen der geringen Differenzen ergibt sich über die ganze Fläche ein sehr flaches Profil.
  3. Bei den "mitteltönigen" sind alle Quinten bis auf eine sogenannte Ausgleichquinte, die übergross ist, so stark verkleinert, dass die Kennlinie auf lange Strecken abfällt mit einem steil ansteigenden Verbinderteil an der Ausgleichsquinte,
    das Profil weist flächig gleich grosse Differenzen auf, wobei die Tonarten mit kleinen Vorzeichenzahlen wenig differente Tonstufen, die "entfernteren" mit grossen Vorzeichenzahlen viele davon haben.


Wegen der eindeutigen Abgrenzbarkeit zu den Gruppen der reinen, der gleichstufigen und der mitteltönigen Temperaturen sollte die Gruppe mit der Charakteristik der Bach-Stimmungen auch eigenständig bezeichnet sein, wofür sich der Begriff "wohltemperiert" anbietet.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass der Begriff der "Wohltemperierung" in der Literatur bereits verwendet wird, allerdings mit dem missverstandenen Sinn der Gleichstufigkeit aller Tonstufen innerhalb eines Oktavenintervalles. Mit den auf diese Art gestimmten Instrumenten lässt sich auch "quer durch den Quintenzirkel" musizieren, doch diese Art Stimmung hat J.S.Bach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gemeint. Dagegen spricht auch, dass die Stimmpraxis damals nicht über die zur gleichstufigen Einstimmung notwendigen Hilfsmittel verfügte, wie sie uns heute selbstverständlich sind.

Auch wenn Bach die Stimm-Charakteristik nicht detailliert beschrieben hat, liegt aus dem zeitlichen Umfeld der Temperaturangaben nahe, dass die Art der Verteilung der Quintengrössen - rein im chromatischen Teil des Quintenzirkels, verkleinert im diatonischen Teil - von ihm verwendet wurde: sie ist leicht und präzise herstellbar, sie macht alle 24 Tonarten mit einer Einstimmung spielbar und hat - im Gegensatz zu der gleichstufigen Temperatur - in jeder Tonart eine charakteristisch andere (Ver-)Stimmung. Es entsteht von den vorzeichenarmen zu den vorzeichenreichen, "entfernten" Tonarten ein abgestuftes Gefälle, wie es in den hier beschriebenen "Profilen" zu erkennen ist.

Die Ausprägung der Profile ist je nach dem Ausmass der Quinten-Verkleinerung unterschiedlich, in jedem Fall aber ist das Ergebnis ein stufenartiges "Profil", das vom Rand her (Ausgangstonart/Grundtöne) zur Mitte hin (entfernteste Tonart/Tritonus) kontinuierlich abfällt; die Kennlinie zeigt zur Mitte hin, wo die Tonarten mit der grössten Zahl der Vorzeichen sind, abfallende Linien, wodurch eine V-Form entsteht.

In der musikalischen Praxis führt dies dazu, dass sich die "nahen" Tonarten (mit wenig Vorzeichen) nur wenig von der Ausgangstemperatur unterscheiden. Mit zunehmender Vorzeichenzahl vergrössert sich der Unterschied, bei fis/ges ist das Maximum. Genauso vergrössert sich innerhalb einer Tonleiter der Unterschied von den einfachen TonintervallVerhältnissen (Quinte/Quarte) zu den komplizierteren. Das Maximum liegt beim Tritonus, der Mitte der Oktave.

Es ist nicht notwendig, sich auf eine einzige "Bach-Stimmung" festzulegen.

Wesentlich für Stimmungen nach dieser Art sind diese Lage und Grösse der Quinten: verminderte Quinten im diatonischen und reine Quinten im chromatischen Teil des Quintenzirkels.

Zusammenfassung

Es gibt vier verschiedene Temperierungs-Systeme für Tasteninstrumente.

Drei davon werden in der musiktheoretischen Literatur bezeichnet als "reine", als "mitteltönige" und als "gleichstufige" Stimmung, wobei die letztere missverständlich auch die "wohltempertierte" genannt wird.

Dabei sollte diese Bezeichnung ausdrücklich einer eigenen Gruppe vorbehalten bleiben sollte, die sich durch ein besonderes Konstruktionsmerkmal auszeichnet: Verkleinerung der Quinten in der diatonischen Hälfte des Quintenzirkels während sie im chromatischen Teil rein bleiben.

Alle mit dem Namen Bach verbundenen Temperaturen sind nach dieser Weise aufgebaut. Mit der Sammlung der 24 Präludien und Fugen in allen Dur- und moll-Tonarten des Quintenzirkels "Das Wohltemperierte Clavier" hat Bach auch zu der Stimmung des Instrumentes eine Aussage gemacht.

Es liegt daher nahe, die Gesamtheit aller Temperaturen mit dieser Konzeption als "wohltemperiert" zu bezeichnen, dagegen aber auch begrifflich die Gruppe abzugrenzen, bei der alle Tonstufen innerhalb eines Oktavenintervalles möglichst gleich gross sind.

In der Praxis sollten deshalb bei der Beschreibung bestehender Temperaturen an Tasteninstrumenten wie Orgel, Klavier etc. nicht nur Fabrikat und technische Details wie Pfeifen- und Registerzahl, sondern als charakterisierendes Merkmal angegeben werden, ob das Instrument "eine reine", "eine gleichstufige", "eine mitteltönige" oder "eine wohltemperierte" Stimmung hat.

Nachtrag

In der Festschrift zum Wiedereinweihungstag (16.01.00) der JohannSebastian-Bach-Kirche zu Arnstadt/Thüringen wird - nach umfangreicher Renovierung - die dort stehende WENDER-Orgel beschrieben, die im Jahr 1703  Johann Sebastian Bach abgenommen hat und an der er von 1703 bis 1707 als Organist tätig gewesen ist.

Danach sollte man annehmen dürfen, dass auch die originale Orgelstimmung rekonstruiert werden konnte: Es waren, so steht in der Festschrift zu lesen:

"ausgehend von den reichlich vorhandenen originalen Pfeifen alle anderen fehlenden Pfeifen und Register schlüssig berechnet und rekonstruiert... Bei der Stimmungsfrage hat man sich gemeinsam mit dem Amt für Denkmalspflege darauf geeinigt, eine in Thüringen um 1700 übliche Stimmung nachzuempfinden. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass man die von J.S.Bach in Arnstadt komponierten Werke problemlos darstellen kann. Die grössten Verstimmungen sind bei dieser Stimmungsart in H-Dur und Fis-Dur zu finden. Man kann davon ausgehen, dass die Stimmung J.F. Wender nachempfunden wurde."

In einem Informationsblatt, das in der Kirche erhältlich ist, wird die Temperierung der Wender Orgel als "wohltemperiert" angegeben, die für die ebenfalls in der Bachkirche stehende Steinmeyer-Orgel dagegen als "gleichstufig". Bislang ist es leider noch nicht üblich, Tasteninstrumente mit ihrem jeweils eingestimmten Stimmungssystem zu beschreiben, doch trifft es in diesem Fall genau die Intention der hier vorgelegten Untersuchungen und die sich daraus ergebenden Überlegungen.

Solange die genauen Werte für die einzelnen Tonstufen nicht gegeben sind - erst Ende des Jahres 2000 ist nach seinen Angaben ein Sprecher der Firma Hoffmann befugt, genaue Angaben zur Stimmung zu machen -, lässt sich eine Kennlinie für diese Orgel nicht errechnen und genaue Aussagen sind deshalb nicht möglich.

Aus der Aussage über die Art der Verstimmungen lässt sich auf eine "Wohltemperierung" schliessen in dem Sinne, wie sie für die Gruppe musikalischer Temperaturen in der hier vorgelegten Studie beschrieben ist, bei der die Quinten im diatonischen Teil des Quintenzirkels verkleinert sind, während im chromatischen Teil die Quinten rein sind.



Berlin, den 01.11.2000
© Dr. Jürgen Grönewald, 2000 - j.groenewald@t-online.de

 

 

Berlin, den 01.04.2009

 

Zu Bachs Stimmpraxis habe ich zuletzt gefunden bei „Dobozi, Bálint. Vergleich verschiedener wohltemperierter Stimmungen. Proseminararbeit, Universität Zürich. Zürich 2000“:

     ,Johann Nikolaus Forkel schreibt in seiner Bach-Biografie 1802: „Selbst der in der Mathematik so gelehrte Johann Sebastian Bach habe sich in diesen Fragen nach der Natur, nicht nach der Regel gerichtet, und die ganze Mathematisiererei habe noch nicht einmalden Erfopg gehabt,die Durchführung einer einwandfreien Temperatur zu gewährleisten.’           und weiter: ,Forkel schreibt über Bach, dass er seinen Flügel und sein Clavichord immer selbst stimmte ... „und er war so geübt in dieser Arbeit, dass sie ihn nie mehr als eine Viertelstunde kostete. ...“ Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, ein Clavichord oder Cembalo in einer Viertelstunde gleichstufig zu stimmen – ein Indiz, das für Kirnberger spricht? Oder hatte Bach seine eigene Methode?’

 

Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass Bach ein Stimm-Verfahren anwendete, welches ohne weitere Hilfsmittel nur einfache Tonschwebungs-Verhältnisse benutzt. Dadurch können die von Forkel erwähnten Besonderheiten Bachs Ablehnung von ,trockenem mathematischen Zeuge’ und Bachs Fähigkeit, nach Gehör und innerhalb einer Viertelstunde zu stimmen erklärt sein.

Die Methode, eine wohltemperierte Temperatur aus der gleichschwebenden Quintenkette herzuleiten, habe ich in „Ars Organi 57, 2009, H. 1, S.38-41“ niedergelegt. Eine ausführliche Beschreibung des Rechenweges ist in Vorbereitung, geplanter Abschnitt: „Zusammenfassung Wohltemperierung“ im „Teil a, Spezial“ der Reihe: „128 musikalische Temperaturen im mikrotonalen Vergleich“, in der bereits

Teil 1:Tabellen (ISBN 978-3-86805-120-9), Teil 2: Texte (ISBN 978-3-939000-40-2) und Teil 3: Nachtrag (ISBN 978-3-86805-993.9) erschienen sind.